Ballettstadt Stuttgart

Friedemann Vogel in Maurice Béjarts "Bolero" Foto: Stuttgarter Ballett

Friedemann Vogel in Maurice Béjarts „Bolero“ Foto: Stuttgarter Ballett

Zweifach Spitze

Im Pas de deux tanzen das Stuttgarter Ballett und die John Cranko Schule seit Jahrzehnten an der Spitze. Wie kommen die Kompanie und die staatliche Ballettschule zu ihrer internationalen Strahlkraft?

VON JULIA LUTZEYER

Paris, Metro-Station „La Defence“: Über der Rolltreppe wirbt das Mailänder Teatro alla Scala für sein „Giselle“-Gastspiel an der Seine. Ein Name in besonders dicken Lettern: Friedemann Vogel. Der Erste Solist und Danseur noble des Stuttgarter Balletts zählt international zu den „Kings of the Dance“. Vogel ist Spross der Stuttgarter John Cranko Schule, setzte seine Ausbildung in Monte Carlo fort und gewann Auszeichnungen wie den Erik-Bruhn-Preis und den Positano Premio de Danza als bester internationaler Tänzer. Eine Sonderstellung in der Kompanie nimmt das Ausnahmetalent mit seinem Pariser Auftritt aber noch lange nicht ein. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen treten als Gäste mal in New York, London, Oslo, Tokio, Hongkong, Paris oder Buenos Aires auf – ob sie nun Jason Reilly oder Alicia Amatriain heißen.
Auch für Führungspositionen qualifizieren sich Stuttgarter Tanzkünstler weltweit. So wirkt Kammertänzerin Sue Jin Kang mittlerweile als Direktorin des südkoreanischen Nationalballetts in ihrer Heimatstadt Seoul. Filip Barankiewicz übernimmt 2017 den Direktorenposten beim Tschechischen Nationalballett in Prag. Weitere Ballettchefs aus der schwäbischen Talentschmiede: Christian Spuck in Zürich, Robert Conn in Augsburg und Bridget Breiner in Gelsenkirchen. Dazu der Husarenstreich von Eric Gauthier: 2007 gründete der Kanadier am Stuttgarter Theaterhaus die Kompanie Gauthier Dance und darf seinen ehemaligen Chef, Ballettintendant Reid Anderson, nun als Kollegen bezeichnen.

Etikett mit Geschichte: Tanzstadt Stuttgart
Tanzstadt Stuttgart. Dieses Etikett hat Geschichte. Schließlich band Herzog Carl Eugen 1760 den französischen Choreografen Jean-Georges Noverre sechs Jahre an den württembergischen Hof. Die 1958 gegründete Noverre-Gesellschaft, die im Schulterschluss mit dem Ballett junge Choreografen fördert, trägt seinen Namen. Sogar der Moderne Tanz machte zwischen Wald und Reben Station: Oscar Schlemmers „Triadisches Ballett“ zog 1916 durch den Stadtgarten und wurde 1922 komplett im Schauspielhaus uraufgeführt, Rudolf von Laban brachte 1920 im Stuttgarter Verlag Walter Seifert seine Schrift „Die Welt des Tänzers“ heraus.
Zum weltweit wirksamen Aushängeschild des Stuttgarter Kulturlebens wurde das Ballett durch John Cranko. Der in Südafrika geborene Brite kam 1960 als Gastchoreograf aus London in die baden-württembergische Landeshauptstadt und löste bald darauf Nicholas Beriozoff als Ballettdirektor ab. Neben nahezu abstrakten Werken schuf Cranko Handlungsballette wie „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“. Auf Grund ihrer menschlich gezeichneten Figuren und choreografischen Raffinesse sind sie heute weltweit gefragte Klassiker.
Der internationale Durchbruch gelang Crankos Kompanie quasi über Nacht auf seiner ersten USA-Tournee 1969. Beeindruckt von der „Onegin“-Aufführung an der Metropolitan Opera in New York prägte der für die New York Times tätige Kritiker Clive Barnes den bis heute viel zitierten Begriff vom „Stuttgarter Ballettwunder“. Der Stern, der damals aufging, leuchtet immer noch. Er glänzte durch die Zusammenarbeit mit international renommierten Choreografen in der Ära von Marcia Haydée. Seit 1996 stahlt er unter der Leitung von Reid Anderson. Als ehemalige Cranko-Tänzer haben beide Direktoren den Aufstieg der Kompanie hautnah mitgeprägt und erlebt.

Weltweit beachtet: Schrittmacher Marco Goecke
„Wir zählen momentan zu den führenden Ballettkompanien weltweit“, sagt der Intendant. Dies lasse sich an den Gastspieleinladungen und an der Gastiertätigkeit der Ersten Solisten messen. Ein weiterer Pluspunkt der Kompanie ist die enorme Bandbreite des Repertoires. „Wir tanzen die Klassiker, die dramatischen Handlungsballette von John Cranko und John Neumeier, die Meister des 20. Jahrhunderts und viele Uraufführungen“, umreißt Anderson die stilistische Vielfalt. „Wir sind also sehr aktiv, was die Kreation neuer Stücke betrifft. Dies zieht nicht nur junge choreografische Talente an, sondern auch international renommierte Choreografen.“ Weit häufiger als anderswo glückt, dass sich in Stuttgart entdeckte Talente zu weltweit beachteten Schrittmachern entwickeln. Bestes Beispiel: Balletterneuerer Marco Goecke, seit 2005 Hauschoreograf in Stuttgart und mittlerweile zusätzlich für das Nederlands Dans Theater tätig. Der gebürtige Wuppertaler hat ein völlig eigenes, höchst inspirierendes Bewegungsvokabular entwickelt, das die Sinne verwirrende Virtuosität des klassischen Tanzes ganz gegenwärtig interpretiert.

Talentsuche bei Wettbewerben
Von Stuttgart in die Welt, aus aller Welt nach Stuttgart: Dies geschieht auch in Gestalt angehender Tanztalente, die für ihre Ausbildung aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika an die John Cranko Schule kommen. Seit 1999 leitet Tadeusz Matacz die 1971 auf Betreiben Crankos hin eröffnete Ballettschule samt Internat und Akademieklassen. Erstmals in der Bundesrepublik Deutschland gewährte eine Ballettschule – postum mit dem Namen ihres Gründers versehen – eine durchgängige Tanzausbildung, die mit einem staatlichen Diplom abschließt.
„Unser Modell bei der Nachwuchssuche ist, Begabungen weltweit zu suchen und nach Stuttgart zu holen, oft mit Stipendien“, erklärt Matacz. Häufig besucht er internationale Wettbewerbe und fungiert dort auch als Jurymitglied. Das früher übliche Vortanzen findet nur noch für Sieben- bis Elfjährige statt. Ältere Interessenten bewerben sich per Video.
„Talente aufzuspüren ist eine sehr subjektive Sache“, sagt der Schuldirektor und lasse sich kaum beschreiben. Wettbewerbsauftritte dauern zwei, drei Minuten. Mehr Zeit bleibt nicht, um sich ein Bild von einem Mädchen oder einem Jungen zu machen. Da sind blitzschnelle Entscheidungen gefragt. „Die Kriterien setzen sich über Jahre zusammen.“ Natürlich müssten der Körper und seine Proportionen für den Tanz geeignet sein. „Die Visitenkarte sind die Füße – ein schön gewölbter Spann“, verrät Matacz. Wichtig seien zudem Sprungkraft, Koordination, die Fähigkeit, sich schnell und geschmeidig zu bewegen, sowie die Musikalität. „Ich sage immer: Bei uns müssen die Muskeln Ohren haben. Sie müssen unmittelbar auf Klänge und Rhythmen reagieren.“
Selbst wenn alles stimmt: Matacz kann nie wissen, wie die Person reagiert, wenn sie etwa aus Lateinamerika oder Asien nach Stuttgart kommt – fern der Familie, in ein anderes Klima, eine andere Kultur, meistens ohne Deutschkenntnisse. „Das wichtigste Kriterium ist für mich daher, dass die jungen Menschen das Talent mitbringen, schnell Neues zu lernen.“ Ohnehin müsse ein Tänzer ein Oktopus mit neun Gehirnen sein.
„Die großen Ballettschulen buhlen regelrecht um den begabten Nachwuchs“, weiß Matacz. Schärfste Konkurrenz der Cranko Schule ist die Royal Ballet School in London. „Sie steht auf der Wunschliste der Teilnehmer internationaler Tanzwettbewerbe weit oben, doch an zweiter Stelle kommt durchweg die John Cranko Schule.“ Erst danach folgten die Ballettschulen in New York, München, Mailand, Hamburg, Zürich, Dresden und all die anderen.

Eleve in der Hauptrolle
München oder Stuttgart? Im Anschluss an den Wettbewerb „Tanzolymp“ in Berlin entschied sich der damals 16-jährige Martí Fernandez Paixa für die John Cranko Schule. Tadeusz Matacz hatte ihm ein Stipendium angeboten. Inzwischen ist der junge Spanier Eleve in der Kompanie und interpretierte kürzlich in Hauschoreograf Demis Volpis „Die Geschichte von Soldaten“ die Titelrolle. Solche Sprünge über die Hierarchiegrenzen hinweg wären in Moskau und Paris wohl kaum denkbar. „Den Ausschlag für Stuttgart gab, dass die Zusammenarbeit zwischen der Schule und der Kompanie sehr eng ist“, erzählt Fernandez Paixa. „Und da das Stuttgarter Ballett meine Wunschkompanie ist, war meine Wahl ohnehin naheliegend.“
Rund 70 Prozent der Kompaniemitglieder kommen mittlerweile aus der John Cranko Schule. „Das macht sie sehr attraktiv für Talente aus aller Welt“, sagt Reid Anderson. „Zudem ist die pädagogische Arbeit extrem gut, was dazu führt, dass unsere Schule der Kompanie großartige junge Tänzer mit viel Potenzial liefert. Der Eleve Fernandez Paixa nennt noch einen weiteren Vorteil: „Bei aller Disziplin herrscht in der Schule eine sehr familiäre Atmosphäre. Jeder kennt jeden.“ Haben die Schüler ein Problem, könnten sie sich an Herrn Matacz wenden. Bei allem Respekt, der ihm entgegengebracht werde: „Er ist wie ein Vater.“

Ringen um den Neubau der John Cranko Schule
Nach Jahren zähen Ringens um die Finanzierung ist nun der Neubau der John Cranko Schule am Start, entworfen vom Münchner Architekturbüro Burger Rudacs. „Ich bin mir sicher, dass der Neubau die Wettbewerbssituation zu unseren Gunsten verändert“, meint Matacz. Denn die kleinen, niedrigen und schlecht klimatisierten Ballettsäle am bisherigen Standort machen wahrlich keine Werbung für die gefragte Schule. Auch das Stuttgarter Ballett profitiert vom Neubau in der Nähe des Opernhauses. Dort wird es ab Sommer 2018 eine Probebühne im Ausmaß der Opernhausbühne geben. Kaum zu glauben: So viel Platz hat das weltbekannte Stuttgarter Ballett bisher nur bei seinen Auftritten.
Ohne Sponsoren hätte dieses Projekt allerdings keine Chance gehabt. Ein Fünftel der Baukosten steuert Porsche bei, Hauptsponsor des Stuttgarter Balletts. „Zehn Millionen Euro!“, betont Ballettintendant Anderson. „Das gab es meines Wissens noch nie in Deutschland.“ Auch auf Seiten des Stuttgarter Autobauers freut man sich über die Partnerschaft mit dem Ballett. Bernhard Maier, Vorstand Vertrieb und Marketing der Porsche AG, kommentiert: „Sie ist für uns deshalb so besonders, weil hier zwei weltweit attraktive Marken zusammenkommen, die viele gemeinsame Werte haben: Ästhetik, Eleganz, Dynamik und Präzision.“
Um die Zukunft des Tanzstandortes zu sichern greifen noch andere Ballettfans tief in den Geldbeutel. So spendeten der Freundeskreis der Staatstheater und die Bausteine-Stifter 2011 eine siebenstellige Summe. Auch mit Blick auf die Kosten für die Stipendien sagt Matacz: „Ich erlebe die hohe Bereitschaft vieler Menschen, etwas zu geben, mit großer Dankbarkeit.“
Und so gehört zur Ballettstadt Stuttgart auch die aufmerksame Öffentlichkeit. Reid Anderson schätzt sein Publikum: „Es ist offen für Neues und neugierig. Dies erzeugt auf beiden Seiten des Vorhangs eine sehr aufregende Atmosphäre.“ Genau diese Atmosphäre wiederum ziehe großartige Choreografen und talentierte Tänzer an. Und so entsteht ein für den Tanz der Talente äußerst fruchtbarer Kreislauf – bewegt und bewegend wie ein überzeugendes Ballett.

Erschienen in „Ventura – Das Private-Banking-Magazin Ihrer Sparkasse“, 2/2015