Wir sind so frei!
Die sexuelle Revolution ist Geschichte und nie am Ende – Ein Blick auf historische und gegenwärtige Wendepunkte voller Lust und Leid
VON JULIA LUTZEYER
Als Tom Neuwirth, besser bekannt als Conchita Wurst, den diesjährigen Eurovision Song Contest gewann, ging ein Aufatmen durch Teile der Presse: Dass die bärtige Dragqueen mit Hilfe des TV-Publikums auf Platz eins des Liederwettstreits landete, werteten zahlreiche Beobachter als Triumpf der Toleranz. Mit Blick auf die neuerliche Diskriminierung Homosexueller in Russland durch Wladimir Putins gesetzliches Verbot, sich öffentlich für gleichgeschlechtliche Liebe stark zu machen, schien mitten in Europa plötzlich die sexuelle Freiheit in Gefahr. Und damit das Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, festgeschrieben unter anderem im Deutschen Grundgesetz und in den Menschenrechten.
Sexuelle Selbstbestimmung: Ein Ideal bis heute? Bei Jung und Alt hat zwar eine Übersättigung mit Reizen eingesetzt, die auf frühere Generationen noch geheimnisvoll verlockend wirkten. Auch die kommerzielle Vereinnahmung des Privaten stößt vielen bitter auf. Da kommen zumindest Zweifel auf, ob es die Menschheit beglückt, wenn jeder und jede den Lüsten frönen darf wie er oder sie gerade möchte. Dennoch ist klar: Einen Rückfall in Zeiten, in denen unverheiratete Paare – wie heute noch oder wieder in islamischen Regimen – um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie miteinander intim sind, ist für moderne Gesellschaften unvorstellbar. Dabei ist die sexuelle Revolution erst fünfzig Jahre her und möglicherweise noch lange nicht zu Ende. Oder setzte sie etwa schon mit der Aufklärung ein?
Im Licht der Aufklärung
Ein Bastard liegt der Dorfgemeinschaft als Kostgänger auf der Tasche. Schwerer als diese ökonomische Faktor wog im Mittelalter und in der frühen Neuzeit aber, dass die Menschen davon überzeugt waren, außerehelicher Sex ziehe den Zorn Gottes auf alle, die diese Sünde nicht durch drastische Strafen auszumerzen trachteten. Jahrhundertelang ging es Hinz und Kunz daher sehr wohl etwas an, wenn Begehrlichkeiten zwischen Personen befriedigt wurden, die kein Segen zusammenband. Wie der britische Historiker Faramerz Dabhoiwala in seinem nun auf Deutsch erschienenen Werk „Lust und Freiheit – Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution“ (Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart. 536 Seiten, 29,95 Euro) darlegt, war das Sexualleben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein alles andere als eine Privatsache. Selbst verheiratete Paare konnten am Pranger oder sogar auf dem Schafott landen. War doch ein Liebesakt während der Menstruation oder in der Schwangerschaft – wie verwerflich – der Lust geschuldet, nicht der Kindszeugung. Nur zu diesem Zweck war Sex wohl gelitten.
Auch wenn sich die Prüderie und die Gesetzgebung nach der Reformation in Abgrenzung zur Kirche in Rom noch verstärkten, war es doch die von den Protestanten ins Spiel gebrachte Gewissensfreiheit, die das Blatt wendete. Aus der kollektiven Schuld wurde eine persönliche. Zu einem echten Umdenken kam es nach Dabhoiwala aber erst durch den Geist der Aufklärung. Insbesondere in der von der Zensur befreiten Presse und in Romanen wurde eifrig über sittlich-moralische Fragen diskutiert, angeregt durch die auf Reisen erfolgten Einblicke in andere Kulturen. „In der modernen Welt“, so schreibt Dabhoiwala, „wird das Recht auf Ausleben des Sexualtriebs höher bewertet als das religiöse Gewissen.“ Und diese moderne Welt begann mit der Aufklärung. Zumindest für Männer der Oberschicht galt nun, dass Monogamie kein gesellschaftliches Naturgesetz mehr war. Frauen hatten an dieser sexuellen Befreiung keinen Anteil – es sei denn als Kurtisanen. Ohnehin ist die in der Aufklärung entbrannte Debatte bis heute nicht zu Ende. Auch mit Blick auf die kulturellen Spannungen zwischen der westlichen und Teilen der arabischen Welt islamischer Prägung ist sich Dabhoiwala bewusst: „Meinungsverschiedenheiten über die Grenzen sexueller Freiheit bilden eines der meistdiskutierten Probleme unserer Zeit.“
Unter dem Druck der Jugend
Waren es nach dem Zweiten Weltkrieg Alfred Charles Kinseys sachliche, aber augenöffnende Dokumentationen „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ und „Das sexuelle Verhalten der Frau“ sowie die Entdeckung des Penizillins, das die Syphilis beherrschbar machte, oder erst die rebellierende Jugend samt Erfindung der Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren: Die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts war multikausal und ereignete sich nicht nur im Schlafzimmer. Dabei kam es zu dem Paradoxon, dass das Intim-Leben nunmehr politisch und damit erneut von Bedeutung für die Allgemeinheit war. Sex wurde öffentlichkeitswirksam und damit auch als Werbemittel entdeckt und genutzt. Der Begründer der Sexualmedizin Volkmar Sigusch schrieb nicht umsonst: „So verrückt es auch klingen mag: Kapitalismus und Liebe gehören zusammen.“
Doch bei allem gefeierten und viel beschworenen Fortschritt in puncto sexueller Liberalisierung, ließ so mancher Durchbruch lange auf sich warten. Erst im März 1994 wurde der Paragraf 175 restlos aufgehoben, der bis 1969 sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe gestellt hatte. Danach Verurteilte sind bis heute nicht rehabilitiert.
In den Farben des Regenbogens
Von geschlechtsspezifischen Zwängen befreit? Nicht einmal in der heutigen bundesdeutschen Gesellschaft ist das für alle Realität. Insbesondere transidente und intersexuelle Menschen, die sich entweder nicht in ihrem bei der Geburt festgestellten Geschlecht beheimatet fühlen oder aber biologisch wie mental männlich und weiblich zugleich sind, leben gewissermaßen in einer Zeit der sexuellen Vorrevolution. Wobei Patricia Metzer von der Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität betont, dass ihr Anliegen nicht primär mit Sex zu tun habe. „Man betrachtet uns immer nur mit Blick auf die Hüften: Dabei steht bei der Transidentität und Intersexualität das Denken und Fühlen im Zentrum.“ Die Sexualität sei ein Aspekt unter vielen. Letztendlich geht’s um ein Leben in Würde und Selbstbestimmung.
Für Menschen, die sich nicht einfach als weiblich oder männlich einordnen lassen, wäre der Durchbruch geschafft, wenn Gesetzgeber und Gesellschaft eine regenbogenbunte Vielfalt an Geschlechtsidentitäten zuließen – auch als Voraussetzung für eine Eheschließung oder die Erziehung von Kindern. „Bisher wird das Geschlecht nach sechs körperlich messbaren Faktoren und einem mentalen Aspekt bestimmt“, erklärt Patricia Metzer, die als genetischer Mann geboren wurde, sich aber als Frau empfindet und auch so lebt.
Fortschrittlich ist in ihren Augen das amerikanische Facebook. Wer sich dort anmeldet, kann zwischen 52 Geschlechterkategorien wählen. Doch auch jenseits der virtuellen Welt gibt es Vorbilder: Anders als in Deutschland hängt in Dänemark die amtlich beglaubigte Geschlechterzugehörigkeit nicht von Gutachtern ab. Dort genügt ein Gang zum Standesamt, um das Geschlecht einzutragen zu lassen, dem man sich zugehörig fühlt. Wirksam wird dieser Eintrag nach einem halben Jahr Bedenkzeit.
Noch weiter geht die Gesetzgebung in Argentinien: Seit 2012 kann dort jeder Mensch frei entscheiden, welches Geschlecht er haben möchte. Sofern von den Betroffenen gewünscht, sind die Krankenversicherungen verpflichtet, geschlechtsangleichende Behandlungen zu bezahlen. So liberal geht weltweit kein anderes Land mit der geschlechtlichen Identität seiner Bürger um.
Erschienen unter der Rubrik Leben in „Sonntag Aktuell“ am 27. Juli 2014