Jean George Noverre

Jean-Georges Noverre

Noverre 1764, porträtiert von Jean-Baptiste Perronneau: Louvre, Paris.

Stuttgarts erstes Ballett-Wunder

Der Pariser Choreograf Jean Georges Noverre verlieh dem Württembergischen Hof Herzog Carl Eugens internationalen Glanz – und trug zum drohenden Staatsbankrott bei

VON JULIA LUTZEYER

Paris, Berlin, Dresden, Straßburg, Lyon, London, Stuttgart, Wien, Mailand: Halb Europa könnte Anspruch auf Jean George Noverre erheben, 1727 in Paris geboren und 83-jährig in St. Germain en Laye gestorben. Im Jahr seiner Geburt regierte Louis XV. in Frankreich, als er starb war Napoleon bereits Kaiser. Der Tänzer, Choreograf und Ballettmeister, der in seinen Wiener Jahren auch der späteren französischen Königin Marie Antoinette als Tanzlehrer gedient hatte, legte eine wahrhaft internationale Karriere hin. Dennoch gibt es gute Gründe, dass sein Name besonders eng mit Stuttgart verbunden ist.
Zum einen gelang ihm am Hof des württembergischen Herzogs Carl Eugen der künstlerische Durchbruch, was nicht unwesentlich an den idealen Bedingungen lag, die ihm im Schwabenland gewährt wurden. Wichtiger noch: 1760 erschienen in Stuttgart und Lyon seine tanzgeschichtlich bis heute bedeutsamen „Lettres sur la danse, et sur les ballets“. Diese „Briefe über die Tanzkunst“ widmete er dem „sérénissime Monseigneur le Duc de Wurtemberg“, seinem neuen Dienstherrn. Diese in viele Sprachen übersetzte und immer wieder neu aufgelegte Schrift sollte nicht nur die Entwicklung des Balletts prägen. Sie wirkte sich auf die Darstellenden Künste insgesamt aus. Der Dramatiker Gotthold Ephraim Lessing war an der Übersetzung der „Lettres“ ins Deutsche beteiligt.

Noverre_1760

Titelblatt von Noverres „Lettres“

Nicht zuletzt hat Stuttgart den „Shakespeare des Tanzes“ nie vergessen, und das, obwohl Noverres kostspielige Kunst das Herzogtum schier in den Staatsbankrott getrieben hatte. Dem 2015 verstorbenen Mitbegründer der ersten Tanzgesellschaft in Deutschland Fritz Höver und seinem bis heute aktiven Lebenspartner Rainer Woihsyk sei Dank, erinnert die Noverre-Gesellschaft seit 1958 an den Franzosen, der die Gattung Tanz aufwertete, indem er ihr zutraute, mit Mimik und Bewegung Bedeutungsvolles zu erzählen und nicht nur zu unterhalten. Angeregt von den Ideen des britischen Dramatikers David Garrick sprach sich Noverre für mehr Glaubwürdigkeit auf der Bühne aus. Den damals gebräuchlichen Masken und sperrigen Reifröcken sagte er den Kampf an, forderte von Tänzern wahrhaftigen Ausdruck und empfahl seinen Kollegen die menschliche Bewegung an der Natur zu studieren, also im realen Alltag. Von affektierten Posen hielt Noverre so wenig wie von tanztechnischen Höchstleistungen um ihrer selbst Willen.Wenn nun am 20. und 21. April die Noverre-Gesellschaft zu ihrem alljährlichen „Junge Choreografen“-Abend einlädt, bei dem sich Tänzer als Schrittmacher versuchen und kurze Stücke präsentieren, ist der Name des Ballett-Revolutionärs wieder präsent. In den Anfangsjahren der Noverre-Gesellschaft haben sich einige Jungchoreografen sogar auf Werke des Namenspatrons berufen, etwa Jan Stripling auf „Tod des Herkules“ oder Alan Beale auf „Fêtes Chinoises“. Zuletzt spielte Noverres Œuvre keine Rolle mehr. Der Noverre-Gesellschaft ist es jedoch zu verdanken, dass sich bei ihren Matineen und Abendprogrammen das Talent zahlreicher mittlerweile international tätiger Choreografen zeigte:  John Neumeier, William Forsythe, Jiří Kylián, Uwe Scholz, Renato Zanella, Marco Santi, Christian Spuck, Douglas Lee, Daniela Kurz, Marco Goecke, Bridget Breiner, Demis Volpi oder Katarzyna Kozielska, um eine Auswahl zu nennen.

Noverres Karriere startete in Paris, wo er seine Ausbildung und seine erste Anstellung als Tänzer erhielt. Über Berlin, Dresden und Straßburg kam er 1756 als Solotänzer nach Lyon, wo er an den „Lettres“ zu schreiben begann, mit ersten Choreografien von sich Reden machte und bereits namhafte Tänzer und Komponisten um sich scharte. Dennoch: Als Herzog Carl Eugen Noverre 1760 an seinen Hof holte, war dieser kein Star, eher ein aufstrebendes Talent. Aber eines mit Geschäftssinn! Für sich und seine Frau, die Schauspielerin war, handelte Noverre ein Honorar von 5000 Gulden plus Extras aus, das oft erhöht wurde. Damit war er der bestbezahlte Choreograf seiner Zeit. Exquisit auch sein Ensemble mit vier Stars, sieben Solisten und gut 40 Gruppentänzern. Über so viele Mitglieder verfügte sonst nur das Pariser Hofballett. Dabei war die zweigeteilte Saison recht kurz. Die Aufführungen konzentrierten sich auf die Wochen um den 11. Februar und den 11. November, Geburts- und Namenstag des Herzogs.
Die Bühnen der Hoftheater in Stuttgart und Ludwigsburg nutzte Noverre als Experimentierfeld. Hier setzt er die in seinen „Lettres“ formulierten Ideen um, scharte Talente wie den Kostümbildner Louis-René Boquet und Tanzstars wie Gaetan und Angelo Vestris um sich. Etwa 26 Ballette hat Noverre in seinen sechs Jahren am Württembergischen Hof geschaffen, darunter sein später in ganz Europa aufgeführtes Ballettdrama „Medée et Jason“. Eine Mordszene auf offener Bühne: Das war bis dahin ein Sujet für die Oper gewesen, nicht fürs Ballett. 1767 wurde Noverres Kontrakt aufgrund der leeren Staatskasse aufgelöst. Wien, Mailand und London waren seine nächsten Stationen.

Bis heute haben Handlungsballette einen Sonderstatus im Repertoire des Stuttgarter Balletts. Dafür sorgte John Cranko mit „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“. Seine Stücke erzählen von wahren Gefühlen. Damit stehen sie in der Tradition Noverres, auch wenn man keine direkte Verbindung zwischen den Choreografen ziehen kann. Dennoch hat Noverre mit seiner Hinwendung zum „ballet en action“ für das erste Stuttgarter Ballettwunder gesorgt. Er hat dem erzählenden Ballett die Bühne geebnet, vom Herzen Württembergs aus und weit darüber hinaus.

Wer sich mit Noverres Ideen vertraut machen möchte, dem seien die neu edierten „Briefe über die Tanzkunst“ in modernisierter Sprache empfohlen (Henschel-Verlag, Leipzig. 9,90 Euro). Mit der ebenfalls 2010 erschienenen Habilitationsschrift der Tanzhistorikerin Sibylle Dahms „Der konservative Revolutionär – Jean George Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts“ liegt zudem eine gut lesbare Einführung in Leben, Werk und Wirken des Tanzerneuerers vor.

INFO

JEAN GEORGE NOVERRE

1727 in Paris geboren
ab 1740 Tanzausbildung
1743 bis 1747 Engagement als Tänzer in Paris, dann in Berlin. Weitere Stationen: Dresden und Straßburg.
1748 heiratet Noverre die Schauspielerin Marguerite-Louise Sauveur.
1750 bis 1752 Solotänzer in Lyon. Dort entstehen erste Choreografien.
1753 bis 1759 als Choreograf in Paris, London und Lyon tätig. Dort beginnt Noverre an den „Lettres sur la Dance et sur le Ballets“ zu arbeiten.
1760 erscheinen Noverres „Lettres“ in Lyon und in Stuttgart, gewidmet seinem neuen Dienstherrn Herzog Carl Eugen von Württemberg. Bis zur Auflösung seines Vertrages 1767 entstehen in Stuttgart und Ludwigsburg etwa 25 Ballettwerke, darunter „Psyche und l’Amour“, „La Mort d’Herkules“ und „Medée et Jason“.
ab 1767 Noverres nächste Station ist Wien, wo er der späteren Königin Marie Antoinette Tanzunterricht erteilt. Anschließend ist er in Mailand und London tätig.
1769 erscheinen Noverres „Briefe über die Tanzkunst“ auf Deutsch, übersetzt von Johann Joachim Christoph Bode und Gotthold Ephraim Lessing.
1776 Königin Marie Antoinette holt ihn nach Paris, wo Noverre nicht an frühere Erfolge anknüpfen kann.
1778 Er erhält den päpstlichen Orden Vom Goldenen Sporn.
Ab 1781 diverse Wiederaufnahmen am King’S Theatre in London. Zeitweise hält sich Noverre abseits des vorrevolutionären Paris in Frankreich auf.
1793 Uraufführung seines letzten Handlungsballetts „Iphigenia in Auliede or the Sacrifice of Iphigenia“ in London. Hinrichtung von Marie Antoinette in Paris.
Um 1803 erweiterte Neuausgabe von Noverres „Lettres“ in St. Petersburg.
1810 stirbt Noverre 83-jährig in St. Germain-en-Laye bei Paris.

NOVERRE-GESELLSCHAFT

Am 5. Mai 1958 gründeten zwölf tanzaffine Bürger unter Federführung von Fritz Höver die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft. Zum Verein der Ballett-Freunde zählte auch Nicolas Beriozoff, Leiter des Stuttgarter Ensembles. Während es in England Ballett-Gesellschaften schon gab, war der Verein in Deutschland ein Novum. Das Ziel war zunächst, durch Vorträge und anschauliche Beispiele das historische und praktische Wissen rund um den Bühnentanz zu vertiefen. 1961 geriet die Förderung choreografischer Talente in den Blick. John Cranko, soeben als Ballettdirektor in Stuttgart eingetroffen, unterstützte dieses Anliegen ausdrücklich. Bis heute ermöglicht die Noverre-Gesellschaft jungen Talenten, mit Profitänzern eine kurze Choreografie zu erarbeiten und diese unter professionellen Bedingungen vor Publikum zu präsentieren. Tanzschöpfer mit Weltruhm starteten bei der Noverre-Gesellschaft ihre Karriere: allen voran John Neumeier, William Forsythe, Jiří Kylián, Uwe Scholz und Marco Goecke. (JUL)

Gekürzt erschienen in „Wochenende“ der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten, April 2017.