Igor Strawinsky

Igor Fjodorowitsch Strawinsky

Igor Fjodorowitsch Strawinsky                       Fotos: Wikipedia/gemeinfrei

Musik, die auf den Körper zielt

VON JULIA LUTZEYER

Igor Fjodorowitsch Strawinsky
Geboren am 5. Juni 1882 (nach dem Julianischen Kalender; nach westlicher Zeitrechnung am 17. Juni) in Oranienbaum bei St. Petersburg, gestorben am 6. April 1971 in New York

Strawinsky heute. Wie nimmt ein Mensch der Gegenwart, dessen Gehör elektronische, minimalistische und atonale Musik genauso kennt wie reine Perkussion, die Kompositionen Igor Strawinskys wahr? Wohl kaum als so erschütternd neu, verstörend und fremdartig wie die Zeitgenossen des Wegbereiters der modernen Musik. Doch eines ist bis heute spürbar, allen voran in den Werken bis Anfang der 1920 Jahre, also vor der neoklassischen Phase: Strawinskys Musik zielt unmittelbar auf den Körper – mit eisernen, peitschenden Rhythmen, scharfen, bohrenden Einzeltönen und schneidenden Akzenten.
Über Strawinskys Skandalerfolg Le Sacre du Printemps (Das Frühlingsopfer, 1913) schreibt der US-amerikanische Musikkritiker Alex Ross in seinem Mammutwerk „The Rest is Noise – Das 20. Jahrhundert hören“, es sei der „Inbegriff der ,zweiten Avantgarde‘ in der klassischen Musik“. Im Gegensatz zu Claude Debussy wolle Sacre die Kunst aus den faustischen ,neuen Sphären‘ heraus in die körperliche Welt holen: „Den größten Teil des 19. Jahrhunderts war Musik ein Theater des Geistes gewesen, nun wollten Komponisten eine Musik des Körpers schaffen. Melodien folgten Sprechmustern; Rhythmen nahmen die Energie des Tanzes auf; musikalische Formen wurden konziser und klarer; die Klänge wurden so hart wie das wirkliche Leben.“
Eine Musik des Körpers. Nun könnte man meinen, dass Strawinsky als Sohn einer Pianistin und eines Bassbaritons von adeligem Stand von dieser körperlichen Verbindung von Musik, Spiel und Darstellung an der Oper von St. Petersburg geprägt worden sei. Doch aus den 1958 als Buch erschienenen Lebenserinnerungen Strawinskys ist zu erfahren, dass den jungen Igor eine andere akustische Erinnerung hat hellhörig werden lassen: Es war das zweisilbige Lied eines nahezu stummen Bauern, das dieser leiernd und geschwind vortrug, begleitet von mit den Armen erzeugten schmatzenden Körpergeräuschen. Die anschauliche Beschreibung des Bauern verdeutlicht: Zum Hörerlebnis gehört das Seherlebnis. In seinem Lebensbericht bekennt Strawinsky, dass er stets Abscheu davor gehabt habe, Musik mit geschlossenen Augen zu hören, „ohne dass das Auge aktiv daran teilnimmt“.

Abgesehen vom jüngsten Bruder hatte sich Strawinsky in seiner Familie stets ungeliebt gefühlt. Eng war die Beziehung zu seinem ostpreußischen Kindermädchen Bertha, die mit den vier Strawinsky-Knaben Deutsch sprach und später auch für die Kinder ihres Zöglings Igor sorgte. Mit neun Jahren erhielt der Junge Klavierunterricht. Noch vor der Reifeprüfung drängte er darauf, in die Harmonielehre eingewiesen zu werden, studierte begeistert die Lehre des Kontrapunkts und entdeckte die Musik der Franzosen. Entsprechend seines gesellschaftlichen Standes hatte Strawinsky Jura zu studieren. Erst nach dem Tod des Vaters (1902) begab sich der 20-Jährige unter die Fittiche von Nikolaj Rimsky-Korsakow, der für ihn Musiklehrer und Ersatzvater zugleich wurde. Ein ordentliches Studium der Musik hat Strawinsky nie absolviert.

Bakst_daighilev Kopie

Sergej Diaghilew mit seiner Mutter, gemalt von León Bakst

Förderer Sergej Diaghilew
Seit früher Kindheit war Strawinsky mit der Welt des Balletts vertraut. Er schätzte Marius Petipa als Meister des klassischen Tanzes und war vom Bühnentanz stärker beeindruckt als von der Oper, auch wenn er Glinka, Tschaikowsky, Borodin, Mussorgsky und Rimsky-Korsakow sehr schätzte. Doch wäre Sergej Diaghilew nicht gewesen, Gründer der Ballets Russes, hätte sich Strawinsky als Komponist vermutlich nie mit dieser Sparte verbündet. In dem 1961 auf Deutsch erschienenen Buch „Gespräche mit Robert Craft“, bekennt er gegenüber seinem langjährigen Sekretär: „Mit dem Größerwerden wurde ich gewahr, daß das Ballett im Begriff war, zu versteinern und daß es faktisch schon reichlich steif und konventionell geworden war. Ich mochte mir nicht vorstellen, daß es für die Musik irgendwelche Bedeutung erlangen könnte…“. Dass es über das Medium Ballett sogar zur Geburt einer neuen künstlerischen Entwicklung kommen sollte, erschien ihm damals undenkbar und war letztlich Diaghilew zu verdanken.

Diaghilew war es gewesen, der als Strippenzieher und Verleger in der Welt der Kunst wirkte, ohne selbst Künstler zu sein. Er erkannte die Begabung von Malern, Musikern, Tänzern und Schauspielern seiner Zeit, förderte sie durch Aufträge und machte sie untereinander bekannt. Vor allem aber initiierte er die spartenübergreifende Zusammenarbeit dieser Talente und trug so zur Entstehung verblüffend neu wirkender Gesamtkunstwerke bei, oft Initialzündungen der Moderne. Mit den von Diaghilew 1909 für Auslandsgastspiele gegründeten Ballets Russes sind bis heute die Namen der Tänzer und Choreographen Anna Pawlowa, Tamara Karsawina, Vaslav Nijinsky, Michel Fokine, George Balanchine und andere verbunden, aber auch die der bildenden Künstler Léon Bakst, Pablo Picasso, Henri Matisse oder Georges Braque. Dazu kommen der Dichter Jean Cocteau und Komponisten wie Claude Debussy, Maurice Ravel, Eric Satie, Manuel de Falla und vor allem Igor Strawinsky. Mit keinem anderen arbeitete Diaghilew so intensiv und erfolgreich zusammen. Bis zu Le Baiser de la Fée (Der Kuss der Fee, 1928) ein Jahr vor Diaghilews Tod, widmete Strawinsky fast alle seine Tanzkompositionen den Ballets Russes: L’Oiseau de Feu, Pétrouchka, Le Sacre du Printemps, Les Noces, Pulcinella und Appolon Musagète. 1914 brachte Diaghilew auch Strawinskys Oper Le Rossignol (Die Nachtigall) und 1920 die darauf basierende Symphonische Dichtung Le Chant du Rossignol (Der Gesang der Nachtigall, komponiert 1917) als Ballett auf die Bühne, zwei Jahre später dessen komische Oper Marva. Einzig L’Histoire du Soldat (Die Geschichte vom Soldaten) entstand mit Hilfe des Mäzen Hans Reinhart aus Winterthur, nicht im Auftrag Diaghilews.

Kostümentwurf von Leon Bakst

Kostümentwurf von Leon Bakst

Tamara Karsavina als Feuervogel

Tamara Karsavina als Feuervogel

Der Feuervogel
Strawinsky lernte den Impressario 1909 persönlich kennen. Ein Jahr davor war sein nur dreiminütiges Orchesterwerk Feu d’artifice (Feuerwerk) aufgeführt worden. Die eigenwillige Malange aus russischen und französischen Klängen hatte Diaghilew aufmerken lassen. Nachdem kein Komponist für die von ihm geplante szenische Fassung zweier miteinander verwobener Volksmärchen unter dem Titel Der Feuervogel zur Verfügung stand, ging der Auftrag für die Ballettmusik an den noch unbekannten Strawinsky. Dieser unterbrach dafür seine Arbeit an der Oper Le Rossignol.
L’Oiseau de Feu, so der französische Originaltitel von Der Feuervogel, sollte den russischen Komponisten über Nacht berühmt machen. Und zwar international von Paris aus, wo das Ballett 1910 uraufgeführt wurde. Auch weil Strawinsky 1911 eine Suite für konzertante Aufführungen aus der Feuervogel-Partitur zusammenstellte, die bald so populär wie ein Schlager wurde. 1919 komponierte er eine zweite Fassung, 1945 eine dritte, die Ballettsuite.

Das Feuervogel-Libretto und die Choreographie des Zweiakters erarbeitete Michel Fokine, der selbst eine Hauptrolle tanzte. Er bettete den Märchenstoff um den Helden Iwan Zarewitsch, den Feuervogel, Prinzessin Zarewna und den Zauberer Kastschej in eine effektvolle Bühnenszenerie ein. Für die Ausstattung mit Wunderbaum, Riesenei und doppelköpfigen Ungeheuern zeichnete Alexander Golowin verantwortlich, die prachtvollen Kostüme entwarf Léon Bakst. Und so zauberhaft schimmernd das Gewand des Feuervogels war, in das Tamara Karsawina schlüpfte, so schillernd und sinnbetörend sind Strawinskys farbenreiche Klangteppiche, in die russische Volksweisen eingewebt sind. Nie zuvor waren die Rhythmen für ein Ballett so kompliziert und eigenwillig gewesen. Tamara Karsawina erzählte später davon, wie der Komponist ihr am Klavier besonders schwierige Passagen vorspielte und geduldig erklärte: „Wenn er Staccati mit dem Kopf mitnickte, dann wurde mir das Muster seiner Musik viel klarer als durch bloßes Taktzählen.“ Auch hier gelingt die Annäherung an die Komposition über den Körper.

Nachtigall: Unscheinbar, aber klangvoll

Nachtigall: Unscheinbar, aber klangvoll

Der Gesang der Nachtigall 
Während im Feuervogel der Einfluss Rimsky-Korsakows unverkennbar ist, löst sich Strawinsky mit Petruschka vom Vorbild seines ehemaligen Privatlehrers. Das zunächst für Orchester und Klavier gedachte Stück wurde unter dem Einfluss Diaghilews fürs Ballett umgearbeitet und 1911 in Paris uraufgeführt. Strawinsky fand hier mit bitonalen, collageartig montierten Klangbildern, mechanisch anmutenden Rhythmen, Spaltklängen, stechenden Bläserakzenten erstmals einen eigenen Stil. Petruschka war bereits der Vorbote des epochalen Le Sacre du Printemps. Die von Tumulten begleitete Pariser Uraufführung (1913) mit Nijinskys ebenso umstrittener Choreographie ging als Theatereklat erster Güte in die Kulturgeschichte ein.
Während sich Sacre anschickte, vom Skandalwerk zum Erfolgsstück zu werden – spätestens durch die konzertante Aufführung 1914 –, widmete sich Strawinsky wieder der 1908 unterbrochenen Arbeit an seiner Oper Le Rossignol. Die mit 45 Minuten kurze Ballettoper, abermals in Paris uraufgeführt, basiert auf Hans Christian Andersens Märchen „Die Nachtigall“. Eine Oboe, die eine Figur endlos wiederholt, fungiert als Stimme der mechanischen Nachtigall. Der Gesang der lebendigen Nachtigall wird von einer Querflöte begleitet. Ein Novum zu dieser Zeit: Während die Figuren auf der Bühne von Tänzern verkörpert wurden, sangen die Sänger aus dem Orchestergraben.

Die Symphonische Dichtung Le Chant du Rossignol entstand 1917 während des Ersten Weltkrieges. Strawinsky lebte zu dieser Zeit in der neutralen Schweiz. Der Gesang der Nachtigall gliedert sich in vier Teile: in das mit Einführung übertitelte Fest am Hof des chinesischen Kaisers, den chinesischen Marsch, den Gesang der Nachtigall und dem Spiel der mechanischen Nachtigall. Am Ende steht die Genesung des kranken Herrschers durch den Gesang der echten Nachtigall.
1920 brachte Diaghilew das Werk als Ballett heraus, 1925 in einer Überarbeitung. Für diese entwarf Henri Matisse die Kostüme, George Balanchine übernahm die Choreographie. Die beiden Russen Strawinsky und Balanchine trafen sich dabei zum ersten Mal. Aus der Begegnung im europäischen Exil erwuchs eine tiefe Freundschaft und fruchtbare Zusammenarbeit – auch am zweiten Exilort Strawinskys, in den USA. Balanchine choreographierte auf Strawinskys Apollon Musagète, Le Baiser de la Fée, Jeu de Cartes, Zirkuspolka, Orpheus, Agon, Violinkonzert und weitere Werke des Meisters.

1965 widmete sich auch John Cranko in Stuttgart Strawinskys Jeu de Cartes und betraute die blutjunge Dorothee Zippel mit der Ausstattung. Zehn Ballette hat Cranko zu Strawinsky choreographiert, darunter der Feuervogel (1964), Gesang der Nachtigall (1968), Orpheus und Ebony Concerto (beide 1970). Wenn beim Ballettabend „Strawinsky HEUTE“ Hauschoreograph Marco Goecke und Sidi Larbi Cherkaoui als Gast Le Chant du Rossignol und Feuervogel als Grundlage nutzen, hat das in Stuttgart längst Tradition. John Crankos allererstes Stück war The Soldier’s Tale (Geschichte vom Soldaten), 1944 in Kapstadt, Südafrika, uraufgeführt. Nun kreierte Hauschoreograph Demis Volpi eine Neuinszenierung in Stuttgart.

Die Geschichte vom Soldaten
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs begann eine entbehrungsreiche Zeit, auch und gerade für Künstler aller Sparten. Auf der Suche nach Möglichkeiten, seine Werke zu präsentieren und (ab 1915) auch zu dirigieren, kam Strawinsky gemeinsam mit dem waadtländischen Dichter Charles-Ferdinand Ramuz auf die Idee, eine Wanderbühne ins Leben zu rufen. Getreu der von Diaghilew stets hochgehaltenen Idee vom Gesamtkunstwerk, entstand L’Histoire du Soldat. Das moritatenhafte Stück war für sieben Instrumentalisten, einen Vorleser, zwei Schauspieler, eine Tänzerin und einen Tänzer konzipiert, wobei die Musiker sichtbar neben der Bühne platziert wurden. So hatte das Publikum bei der Uraufführung in Lausanne (1918) sowohl die Darsteller, das Orchester als auch den Erzähler im Blick. „Diese Anordnung kennzeichnet genau das Nebeneinander der drei wesentlichen Elemente des Stücks, die, eng miteinander verbunden, ein Ganzes bilden sollten…“, erzählte Strawinsky seinem Assistenten Robert Craft.
Hier wird deutlich, dass Strawinsky weder der Musik noch dem Tanz eine dienende Funktion zuwies. Es sah Schauspiel, Ballett und Musik als eigenständige Künste an, die sich mit ästhetischem Gewinn ergänzen und gemeinsam wirken konnten.
Auch wenn die von Jazzklängen, Ragtime, Walzer und Tango durchsetze Geschichte vom Soldaten weniger vom Krieg erzählt als von einem beurlaubten Soldaten, der auf seiner Geige spielt, die ihm dann der Teufel mit dem Versprechen auf Reichtum abluchst: L’Histoire du Soldat ist das einzige Werk Strawinskys mit Bezug zum Zeitgeschehen. Der Plan, mit dem sparsam ausgestatteten Stück auf Tour zu gehen, ging allerdings nicht auf. Der Ausbruch der berüchtigten Spanischen Grippe verhinderte das Vorhaben. Die Uraufführung in Lausanne blieb für lange Zeit die einzige Vorstellung. 1919 entstand auf Basis der Partitur die Suite from The Soldier’s Tale.

Mit Ausbruch der Oktoberrevolution konnte Igor Strawinsky als Angehöriger des russischen Landadels nicht mehr in seine Heimat zurück. Auch kamen aus Russland keine Tantiemen mehr. Zwischen 1920 bis 1939 lebte Strawinsky vorwiegend in Frankreich. 1934 wurde er französischer Staatsbürger. Nach drei Reisen in die USA und gedrängt durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges siedelte Strawinsky 1940 in die USA über und wurde 1946 US-amerikanischer Staatsbürger. Im Alter von 70 Jahren wandte sich der Komponist, der seit 1920 neoklassische Musikwerke schuf, noch ein Mal einer für ihn neuen musikalischen Richtung zu: der Zwölftonmusik.

Dass die innige Verbundenheit Strawinskys zu seinem ersten und prägenden Auftraggeber niemals in Vergessenheit geriet, zeigt sich darin, dass Strawinsky wünschte, wie Diaghilew auf der venezianischen Friedhofsinsel San Michele beigesetzt zu werden. So kam es dann auch. Als Igor Strawinsky 88-jährig am 6. April 1971 in New York starb, wurde sein Leichnam nach Italien überführt und auf San Michele bestattet. 42 Jahre nach der Beerdigung des Ballets-Russes-Gründers und großen Kunstfreundes Sergej Diaghilew.

Erschienen als Leitartikel im Programmheft des Stuttgarter Balletts zum Ballettabend „Strawinsky HEUTE“