Lob der Jeans

Eine Levi's von heute: Das Lederetikett am Bund ist dezenter geworden. Foto: Julia Lutzeyer

Eine Levi’s von heute: Das Lederetikett am Bund ist dezenter geworden. Foto: Julia Lutzeyer

Die Freiheit trägt Blau

Trotz aller Makel: Ein Loblied auf die Jeans

VON JULIA LUTZEYER

Wenn es etwas gibt, das es erlaubt, den amerikanischen Traum fühl- und sichtbar durchs Leben zu tragen, dann die Jeans. Während man sich Weltanschauungen normalerweise wortgewaltig einverleiben muss, lässt sich das Ideal von Freiheit und Selbstverwirklichung gewissermaßen umverleiben.
Erfunden von einem Einwanderer, getragen von den Goldsuchern des Wilden Westens, zum Kult erhoben und mit Sexappeal aufgeladen durch Rebellen, Rockstars und den drei Engeln für Charlie, etablierten sich die Jeans zunächst bei den Nichtetablierten. Die eigneten sich bestens als Idole einer Jugend, der das Korsett aus gesellschaftlichen Konventionen zu eng geworden war. Mit lässig weiten Denim-Hosen bekleidet forderte sie die Freiheit des Individuums.
Das machte das Kleidungsstück der Arbeiterklasse verdächtig. Gerade bei denen, die sich auf die Fahnen geschrieben hatten, die Rechte des Proletariats hochzuhalten. Die Jeans, in der DDR von offizieller Seite „Hose des Klassenfeindes“ genannt, war nun mal eindeutig westlich. Und geriet daher in der Zeit des kalten Krieges zwischen die Fronten. Wer im Arbeiter- und Bauernstaat eine Jeans trug, galt als in irgendeiner Form mit dem Kapitalismus verstrickt. Das hat Rebecca Menzel in ihrer 2004 als Buch erschienenen Magisterarbeit „Jeans in der DDR – Vom tieferen Sinn einer Freizeithose“ (Ch. Links Verlag, Berlin) gut belegt dargelegt. Ein Ordnervermerk bei der Stasi wie „trägt Niethosen“ oder „trägt Doppelnahthosen“ konnte mit massiven Repressalien einhergehen. Dennoch knickte die DDR-Regierung in den wilden Siebzigern ein und ließ in ihren volkseigenen Betrieben schneidern, was das Volk begehrte. Allerdings wollte das keine Jeans Made in DDR, sondern das Original.
Und so errang die zuvor verteufelte West-Jeans 1978 dann doch noch einen historischen Sieg: Vor Weihnachten bestellte das DDR-Ministerium für Leichtindustrie in den USA eine Million Levi’s-Jeans. „Der Vorschlag an das Politbüro liegt noch heute im Bundesarchiv, vom Staatsoberhaupt mit Filzstift signiert: ,Einverstanden Honecker’“, schreibt Rebecca Menzel zu diesem ungeheuerlichen Vorgang. Die Nachfrage seiner Genossen und Landsleute konnten Honecker und die seinen mit dieser Order jedoch bei Leibe nicht deckten. Bei der Jugend im Osten hielt der Hype um die echten Jeans an und dürfte sogar nicht unerheblich zum Fall der Mauer beigetragen haben.
Das ist Geschichte. In weiten Teilen der Welt, ausgenommen vielleicht von arabisch-islamischen Staaten, hat die Jeans ihre gesellschaftspolitische Sprengkraft eingebüßt. Längst sind die robusten Baumwollhosen mit den fünf Taschen und den Gürtelschlaufen zum Alltagsoutfit der breiten Masse geworden. Eine geradezu demokratische Karriere, auch wenn es in Jeans-Fabriken ganz und gar nicht demokratisch zugeht. Die meisten Jeans kommen heute aus China – auch wenn sie amerikanische, europäische oder deutsche Markenartikel sind.

Deutscher Erfinder, französischer Stoff
Lange vor ihrem modischen Siegeszug um den Globus war die Jeans vor allem eines: international. Als Vater der amerikanischen Hose gilt ein deutscher Jude: Löb Strauss aus dem oberfränkischen Buttenheim. Die Welt kennt ihn unter seinem späteren Vornamen Levi. Dessen Geschichte liest sich wie vom Tellerwäscher, der sich zum Millionär hochackert. Nur dass es Levi Strauss vom fliegenden Händler zum Fabrikanten brachte.
Zwei europäische Städtenamen verstecken sich in den synonym gebrauchten Materialbegriffen Jeans und Denim: Die italienische Hafenstadt Genua darf als Taufpatin der Jeans gelten. Dort wurde die Baumwolle verschifft. Auf Französisch wird Genua zu Gênes, schwer auszusprechen für amerikanische Zungen. Die sagten schlicht: Jeans.
Französische Wurzeln hat auch das Wort Denim, das den blau-weißen Baumwollstoff in Köperbindung bezeichnet. Kennzeichen dieser Webart ist der schräg verlaufende Grat. Hinter der Kurzform Denim steckt das ungleich klangvollere Serge de Nîmes, was so viel heißt wie: Gewebe aus Nîmes.
Eine Jeans wäre keine Jeans ohne ihre Nieten. Diese verdankt sie einem Schneider aus dem lettischen Riga, damals Teil des russischen Zarenreichs. Wie Löb Strauss war Jacob Youphes, der später unter Jacob Davis firmierte, Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA ausgewandert. 1870 ließ er sich in Reno nieder. Angeregt durch Befestigungsnieten an Pferdedecken und Zaumzeug kam er auf die Idee, diese auch für stark beanspruchte Hosen zu verwenden. Da Davis jedoch die Dollars fehlten, um seine Erfindung schützen zu lassen, wandte er sich an Levi Strauss.
Dieses Zusammentreffen führte am 20. Mai 1873 zum US-Patent auf einen nietenverstärkten Einteiler. Nutznießer war die Firma Levi Strauss & Co., für die Davis als Angestellter bis zu seinem Tod tätig war. Auf der zum Patent angemeldeten Zeichnung ist übrigens – welch Überraschung! – eine Frau im Overall zu sehen.

Clean, also sauber, war die Jeans noch nie
Das Zeug zum Kult hat die Jeans nicht nur wegen dieses multikulturellen und damit letztendlich höchst amerikanischen Gründungsmythos. Glücksucher, Abenteurer, Cowboys und Bauarbeiter trugen mit der reißfesten Arbeiterhose ein kraftstrotzendes Männerbild in die Gesellschaft, das bis heute durch die Inszenierungen der westlichen Welt spukt. Mit Blick auf die frühen Werbebilder um 1910 stellt die Kunsthistorikerin Anna Schober in ihrem Buch „Blue Jeans – Vom Leben in Stoffen und Bildern“ (Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2001) fest, dass Bluejeans schon früh mit Bedeutungen aufgeladen waren: Sie standen nicht nur für eine „demokratische“, „amerikanische Verfasstheit“, sondern verkörperten auch einen „männlich-heterosexuellen Charakter“, eine „aktiv-wilde Sexualität“.
Clean, also sauber, war die Jeans noch nie: Sie war gemacht für das zupackende, raue Leben in Goldmienen, auf Viehweiden, in der Prärie, auf Baustellen und am Tresen. Da blieb es nicht aus, dass der Stoff steif vor Dreck wurde und sich an besonders beanspruchten Stellen Löcher oder Risse bildeten. In einem Zustand, in dem andere Kleidungsstücke geflickt würden oder in der Tonne landeten, zeigen sich Jeans erst von ihrer aufregendsten Seite. Sie werden persönlich, erzählen vom Körpereinsatz ihrer Besitzer, werden Unikate.
Heute sorgen Fabrikarbeiter für diese hochattraktiven Spuren des einsetzenden Verfalls, nicht mehr die Träger. Durch den Einsatz von Chlorbleiche oder des Anti-Schimmelmittels DMF sowie durch das die Atemwege schädigende Sandstrahlen mit feinpulvrigem Silizium riskieren die Knechte und Mägde der Konzerne dabei ihre Gesundheit und oft auch ihr Leben. Und all das nur, damit die nagelneuen Denims moderner Helden und Heldinnen diesen unwiderstehlichen Used-Look aufweisen.
So ist das mit den Jeans: Makel gehören zu ihnen. Die bekommen sie so schnell nicht wieder los, auch wenn erst kürzlich wieder ein Versuch dazu unternommen wurde. Im Mai verkündete Chip Bergh, aktueller Chef von Levi Strauss & Co., im TV-Magazin Fortune, dass er seine Jeans niemals wasche. Flecken ließen sich schließlich auch mit einer Zahnbürste oder einem Schwämmchen entfernen. Das ist Wasser auf die Mühlen der Umweltschützer. Doch gerade die hatten die Jeans und ihre Herstellung bisher auf der roten Liste. Schließlich werden für die Produktion nur einer Jeans mehrere tausend Liter Wasser verbraucht. Allen Bemühungen der Hersteller zum Trotz lässt sich diese Ressourcenverschwendung nicht stoppen. Insofern ist der Ratschlag, die einmal gefertigte Jeans im Gegenzug einfach nicht mehr zu waschen, ein durchschaubares Manöver.

Am Frauenpo sitzt die Jeans so eng wie die Schale eines Apfels
Zum Mythos der Jeans gehört ihre Rolle bei der Emanzipation der Frau. Dabei spielt das dichtgewebte Beinkleid eine fast so große Rolle wie die Erfindung der Pille. Und schon geht es erneut um Freiheit, statt um Verschwendung oder Unterdrückung. Oder etwa doch nicht? Wer nun einwirft, die Jeans sei ein Unisex-Produkt, der hat nicht richtig hingeschaut: Erst seit die Jeans in den Fünfzigern am Frauenhintern auftaucht sitzt sie am Gesäß so eng wie die Schale eines Apfels. Nie zuvor im bekleideten Zustand war der Blick auf das gebärfreudige Becken der Frau so freigegeben.
Das hat Folgen: Bis heute kasteit sich die holde Weiblichkeit, um in knallenge Jeans zu passen und sorgt sich, ob ihr Hintern für die sexiest aller Freizeithosen auch knackig genug ist. Selbst die sogenannte Boyfiend-Jeans, bei der die lässig-weite Hosenform für ihn auf feminine Körper übertragen wird, funktioniert als modisches Kleidungsstück nur mit Sexappeal.
Dennoch: Die Jeans hat große Fans unter jenen, denen das Wohl der Frau am Herzen liegt – oder lag. Zum Beispiel Yves Saint Laurent. Der 2008 in Paris gestorbene Modemacher bekannte wiederholt, dass er gerne die Jeans erfunden hätte: „das spektakulärste, praktischste und lässigste Kleidungsstück.“ Er spricht ihr Charakter, Bescheidenheit, Sexappeal und Einfachheit zu. Noch besser auf den Punkt gebracht hat das Wesen der Jeans Ulrich Plenzdorf, dessen von Goethe inspiriertes Bühnenstück „Die neuen Leiden des jungen W.“ vor 42 Jahren am Landestheater Halle uraufgeführt wurde. Darin bekennt der Held oder besser Antiheld Edgar Wibeau aus dem Jenseits: „Kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans sind die edelsten Hosen der Welt … Ich meine natürlich echte Jeans … Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen … Oh Bluejeans, yeah.“

Erschienen auf den Wochenendseiten Solo der „Stuttgarter Nachrichten“ am 14. Juni 2014