Die Unerschöpfliche
Im Jahr ihres 50. Geburtstags verdichtet die Choreografin Sasha Waltz ihre Stücke für eine Ausstellung im Karlsruher ZKM zu bildhaften Installationen – das Porträt einer Experimentierfreudigen
VON JULIA LUTZEYER
Muscheln? Der Koch der Crew hatte es gut gemeint. Vom Mittagessen ist viel übrig. Doch wer im Altbaubüro von Sasha Waltz & Guests in der Sophienstraße nahe den Hackeschen Höfen in Berlins Mitte auf die Tanzerweiterin Sasha Waltz wartet, hat für derlei Genüsse keinen Sinn. Wie wird sie sein? Diese Frau, deren Stücke sich tief einprägen, deren choreografische Sprache nicht nur Räume, sondern auch Wände, Körper und Wasserbecken durchdringt? Ihren Werken kann man derzeit auch in Süddeutschland begegnen – in mehr oder minder bewegten Installationen. Das Medienmuseum im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe widmet der Tochter der badischen Stadt eine Ausstellung. Sie ist bis zum 2. Februar 2014 zu sehen.
Schritte, eine huschende Gestalt – überraschend klein und zart, ein peilgenauer Seitenblick. Dann ist sie da: ganz und gar. Gar nicht müde. Die Haare nach einem Probentag mit anschließenden Telefonaten offen und noch strähnig feucht. Von ihrem Zuhause, ihrer Familie, ist sie zur Abendstunde noch einmal ins Büro gekommen. Eine wegwischende Handbewegung: „Nicht der Rede wert.“
Ihr mit Kartons vollgestellter Raum ist zweckmäßig eingerichtet. Die wenigen Möbel sind Designklassiker, tragen Gebrauchsspuren wie zusammengesuchte Fundstücke. Glamour zeigt sich allenfalls an der hohen Zimmerdecke: ein Himmel aus Blattgold. Im März feierte Sasha Waltz ihren 50. Geburtstag. Längst hat sie Tanzgeschichte geschrieben, wird in einem Atemzug mit der verstorbenen Pina Bausch genannt. Ein künstlerisches Ausnahmetalent wie sie und doch auch das Herz einer Truppe mit vielen Gesichtern. Gerade erst trat Sasha Waltz bei der Wiederaufnahme ihres Frühwerks „Travelogue I – Twenty to eight“ erneut als Tänzerin auf. „In eine Rolle zu schlüpfen, ist ein ganz besonderer Zustand. Das Bewusstsein ist – ähnlich wie in einer Meditation – so fokussiert, dass man ganz im Jetzt leben kann. Das ist für mich eine zentrale Erfahrung“, begründet sie ihren Drang, wieder als Akteurin auf der Bühne zu sein.
Wann wird die Skulptur zu Tanz?
In diesem Jahr der Rückblicke scheint der Wunsch, in der Gegenwart anzukommen, umso dringlicher: Ein halbes Jahrhundert Leben, 20 Jahre Sasha Waltz & Guests, 100 Jahre „Le Sacre du Printemps“ mit einer neuen Fassung der Choreografin (uraufgeführt in Sankt Petersburg), dazu die retrospektive ZKM-Ausstellung in Waltz’ Geburtsstadt Karlsruhe. Ganz schön viel Vergangenheit für eine so zukunftsweisende Künstlerin. Da ist es kein Wunder, dass die Rückbesinnung ihr als Versuch diente. „Es war für mich eine Herausforderung, meine Arbeit anhand der Ausstellung unter einem bildnerischen Aspekt zu untersuchen. Zu sehen, wo bewegen wir uns von der Installation in den Tanz und wo vom Tanz zur Skulptur in die Installation?“ Diese Fragen bestimmten die Auswahl der im ZKM präsentierten Stücke, Sequenzen und Installationen. „Dieses Zusammenzurren eines Stücks auf eine Bildidee war sehr spannend und verlangte von mir so etwas wie einen Perspektivwechsel“, sagt die Ungeschminkte. Ihr Blick ist ungemein offen, manchmal regelrecht in die Weite leuchtend, als wolle er mit seinem Licht die ganze Welt erfassen.
Den Tanz ins Museum zu bringen, ist für Sasha Waltz nichts Neues. 1999 erforschte sie mit ihrer Kompanie die noch leeren Räume des Jüdischen Museums Berlin, entworfen von Daniel Libeskind. Auch das von David Chipperfield umgebaute Neue Museum füllte die Wahl-Berlinerin mit Bewegung. Erst danach zog die ägyptische Sammlung ein. Doch verglichen mit diesen „Dialog“-Projekten hat die Karlsruher Ausstellung keinen echten Aufführungscharakter. „Im ZKM füllen die Installationen und Objekte den Raum. Er ist dadurch definiert und wird durch tänzerische Momente nur ergänzt“, erklärt Sasha Waltz den Einsatz der Performer, die ihre Bewegungssprache in die Ausstellung tragen. Auf die live dargebotenen Gruppenauftritte hatte die Choreografin nicht ganz verzichten wollen. „Komplett ist die Ausstellung für mich erst durch den Tanz an den fünf Statio- nen.“
Dass Sasha Waltz immer wieder zu neuen Ufern aufbricht, das Terrain des Tanzes konsequent erweitert – sei es durch Opernprojekte, die Einbindung von Architektur, die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten –, versteht sie als Resultat schleichender Entwicklungen. Es gäbe da keine zielgerichtete Methode, um Grenzen zu sprengen. Dennoch erkennt sie in ihrer choreografischen Biografie Zäsuren. „Mit der Zeit an der Schaubühne und der ,Körper‘-Trilogie hat eine andere Periode begonnen. Das hing mit dem riesigen Bühnenraum zusammen, fünfmal so groß wie zuvor.“ Ihre anfänglich erzählerische, sozialkritische Sprache wurde damals abstrakter und zugleich monumentaler. Die Gliedmaßen der Tänzer umschlangen einander, schienen sich zu überlebensgroßen Skulpturen zu verdichten.
Mit „Dido & Aeneas“ zur Musik von Henry Purcell wagte sich Waltz 2005 an ihre erste Oper. Ihre Befürchtung, die Freiheit des Tanzes im Korsett der Partitur nicht verteidigen zu können, erwies sich als unbegründet. „In der alten Musik gibt es viele Partien, in denen die Solisten bei der Länge improvisieren können. Das war mir mit Blick auf die Tänzer wichtig.“ Zumal die Barockmusik von einem organischen Atem durchdrungen sei und damit geradezu schwesterlich zum Tänzerischen passe.
Durchgerungen zu „Le Sacre du Printemps“
In vorgegebene Fußstapfen zu treten, ist Sasha Waltz’ Sache nicht. Dennoch wagte sie sich dieses Jahr mit ihrem „Sacre“ an ein Schlüsselwerk der Moderne. Zahlreiche Fassungen gibt es davon, 100 Jahre nach seiner skandalträchtigen Uraufführung. Warum also ausgerechnet dieses Werk? „Es hat lange gedauert, bis ich mich dazu durchgerungen habe“, räumt sie ein. „Doch bei einer Probe zur rekonstruierten Urfassung von Vaslav Nijinsky in Warschau habe ich die Bedeutung des Stückes ganz unmittelbar gespürt. Das hat mir den Impuls gegeben, mich daran zu wagen.“ Auch habe sie das Angebot, mit dem russischen Dirigenten Valery Gergiev zu arbeiten, kaum ausschlagen können. Solche Sätze klingen aus ihrem Mund völlig unprätentiös. Fast entschuldigend lächelnd setzt sie nach: „Ich wollte und durfte mich vor ,Sacre‘ einfach nicht drücken.“
2013 gab es für Sasha Waltz aber auch eine Niederlage zu verkraften: Als Nachfolgerin von Vladimir Malakhov, Intendant des Staatsballetts Berlin, wurde ihr Name zwar gehandelt, den Zuschlag bekam jedoch der Spanier Nacho Duato. „Diese Aufgabe hätte ich mir vorstellen können“, sagt sie und erklärt sogleich, warum. „Ein Repertoire aufzubauen – über meine eigene Arbeit hinaus –, finde ich schon reizvoll. In jeder Stadt gibt es ein Museum für die klassische Moderne und die zeitgenössische Kunst. Eine solche Gesamtschau kann im Tanz nur eine große Institution mit Ensemble leisten.“ Sasha Waltz arbeitet seit ihrem Abschied von der Schaubühne nicht mehr mit einer festen Truppe, sondern wieder projektbezogen mit wechselnden Tänzerinnen und Tänzern. Das „& Guests“ (Gäste) im Namen ihrer Kompanie ist wörtlich zu verstehen. Waltz: „Das sorgt dafür, dass neue Energien hinzukommen, junge und ältere Tänzer voneinander lernen.“
Älter werden, nachdenken, was noch kommt? Sasha Waltz tut das auf ihre Weise. „Ich möchte weiter an meiner künstlerischen Sprache arbeiten, weiß aber noch nicht, wie sich diese transformiert. Der bildnerische Bereich erscheint mir durch die Karlsruher Ausstellung, eigentlich schon seit meinem Stipendiat an der Villa Massimo in Rom, als möglicher Weg. Vielleicht bekommt er mehr Raum in meiner Arbeit.“ Zunächst aber stehen zwei Opern an. Für die Berliner Staatsoper inszeniert die Unermüdliche Richard Wagners „Tannhäuser“ mit Daniel Barenboim am Dirigentenpult. Und für die Oper in Amsterdam hat sie sich Monteverdis „Orpheo“ vorgenommen – die Mutter aller Opern. „Das wird für mich wie eine Zäsur sein. Erst nach dieser Verschmelzung von Orchester, Gesang und Tanz zu einem großen Gesamten frage ich dann: Wohin geht es jetzt?“
Erschienen auf der Seite Kultur & Trend in „Sonntag Aktuell“ am 24. November 2013